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Hypertext und WWW: Wie es gedacht war und was noch fehlt

Für die meisten Menschen, die überhaupt das WWW kennen, gilt Internet = WWW = Browser. Das Medium stellt sich ihnen durch das Werkzeug dar, welches ihnen als einzigen Umgang das passive ,,Point-and-Click`` vorgibt. Zwar wurden in letzter Zeit einige mehr oder weniger interaktive Anwendungen wie E-Mail und Diskussionsforen entwickelt oder integriert, die auch das Verweisen auf andere Teile des WWW erlauben, sie stehen aber im Grunde isoliert da. Für den größten Teil der Dokumente gilt: Man ist umgeben von Büchern, die einem nicht gehören; und wenn doch, ohne Rand zum Beschreiben. Wieder ein Beispiel für die bereits beschriebene These, wie sehr das Design von Werkzeugen und Materialien die Menschen und deren Verhalten beeinflußt.

War dieses Medium von vornherein auf diesen Umgang ausgelegt oder gab es Alternativen? Wie man in Abschnitt 3.4 nachlesen kann, waren Annotationen im MOSAIC Browser vorgesehen, und ein in der ZEIT nachgedrucktes Portrait von Tim Berners-Lee, des ,,Erfinders`` des WWW, zeigt, daß solche Funktionalitäten auch für das gesamte System gedacht waren:

,,[Tim Berners-Lee] hatte einst einen Browser entwickelt, mit dem man die Web-Dokumente nicht nur betrachten konnte, wie es heute üblich ist, sondern auch bearbeiten -- und zwar gleich dort, wo sie liegen, die nötigen Zugriffsrechte vorausgesetzt. In dem Web, das ihm vorschwebte, konnte man beispielsweise auch Dokumente auf fernen Rechnern einfach mit einem Link versehen, der die Leser zu einem Kommentar führt oder zu anderen Seiten mit weiterführendem Material. Man konnte Anmerkungen einfügen, so wie man an den Rand eines Buches schreibt, und der Erfinder dachte sogar an Arbeitsgruppen, die auf einer Homepage gemeinsam Texte oder Zeichnungen entwerfen. ,Es hätte ein sehr interaktives Medium werden sollen; das war die Idee. Aber das ist nicht das, was Sie bekommen haben`, sagt Berners-Lee.``

Das WWW sollte also nicht nur ein Lieferant von unveränderlichen Dokumenten und Bildern sein, die alleine und passiv betrachtet werden, sondern auch eine Umgebung für gemeinsames Arbeiten: ``Berners-Lee's original vision of the WWW was of a sea of interactive shared knowledge, in which our computers are memexes whose knowledge base exists in cyberspace rather than microfilm. [...] [T]he WWW was originally designed as an interactive means for collaboration and augmentation, but has instead become a static medium for hypertextual publication.''

Welche Form diese Interaktivität annehmen kann, wird in einem Interview mit Berners-Lee deutlich: ``Another form of interactivity is to be able to make a comment on somebody's paper, to put a yellow sticky on it and say, `This is really important,' with a link to why it is.''

Damit kommen wir einigen der bisher beschriebenen Ansprüchen an eine Lernumgebung doch schon recht nahe.

Wir haben bereits in den anderen Abschnitten dieses Kapitels gezeigt, als wie wichtig der flexible Umgang mit und das Erweitern von Lernmateralien für den Lernenden angesehen wird. Ebenfalls ist die willkürliche Trennung von Lesen und Schreiben im WWW, von Modi allgemein, aus software-ergonomischer Sicht zu kritisieren. Dies sind auch Punkte, die Berners-Lee vorschweben und in dem bereits genannten Interview unter dem Stichwort ,,intercreativity`` subsumiert und als Ziel vorgestellt wurden: ``Intercreativity happens when you are able to build, make something, express yourself while you are in the same mode as when you are reading, absorbing, surfing. In other words there's no difference. When you have something that you need to express, the threshold is so low that you can move it out into the communal space.''

,,Intercreativity``. Und was haben wir heute? Es wird mühsam versucht, sich dem durch plug-ins und Insellösungen anzunähern. Irgendwann sind diese Visionen verloren gegangen oder zumindest zurückgestellt worden. Eine Betrachtung der Geschichte des WWW (,,when annotation died``) wäre bestimmt interessant. Beteiligt waren jedenfalls wirtschaftliche (der Wettlauf von Nescape und Microsoft bei der Browser-Featuritis) und soziologische Gründe (das WWW als Analogon des Fernsehers, als einfacher Zusteller von Inhalten, wie jetzt durch Push-Server und ihren ,,Kanälen`` begonnen).

Mit der Realisierung von Annotationen im WWW könnten wir etwas erreichen, was sich nicht nur Berners-Lee, sondern auch ein anderer, früherer Visionär vorstellte. Zum Abschluß dieses Kapitels ein bis heute unrealisiertes Szenario von Vannevar Bush, das bereits 1945 die Möglichkeit, eigene Gedanken in ein Hypertextsystem einzubringen, vorsah:

``The owner of the memex, let us say, is interested in the origin and properties of the bow and arrow. Specifically he is studying why the short Turkish bow was apparently superior to the English long bow in the skirmishes of the Crusades. He has dozens of possibly pertinent books and articles in his memex. First he runs through an encyclopedia, finds an interesting but sketchy article, leaves it projected. Next, in a history, he finds another pertinent item, and ties the two together. Thus he goes, building a trail of many items. Occasionally he inserts a comment of his own, either linking it into the main trail or joining it by a side trail to a particular item. When it becomes evident that the elastic properties of available materials had a great deal to do with the bow, he branches off on a side trail which takes him through textbooks on elasticity and tables of physical constants. He inserts a page of longhand analysis of his own. Thus he builds a trail of his interest through the maze of materials available to him.''


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root
1999-08-24